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Samstag, 7. März 2009

Erinnerst Du Dich noch an mich ?

Es war Sommer an jenem Dienstag im März. Schon am frühen Mittag übersprang das Thermometer die 20 Grad-Marke, die Sonne schien warm von einem strahlenden, schon fast kitschigen Postkartenhimmel und die laue Luft war erfüllt vom aufgeregten Gesang der Vögel, der den vorausgegangenen trüben Winter endgültig Vergessen machen wollte.

Das Leben mutete ihr fast zynisch an, passten die äußeren Gegebenheiten doch so gar nicht zu der dumpfen Leere und dem bohrenden Schmerz in ihrem Inneren. Erst spät am Abend verließ sie das Haus, weil die Angst sie selbst in ihren vier Wänden nicht zur Ruhe kommen ließ. Mit gesenktem Kopf ging sie ziellos durch die leeren Straßen und zählte ihre bleischweren Schritte, um der quälenden Stimme hinter ihrer Stirn Einhalt zu gebieten. Ein nicht enden wollender Tränenstrom nahm ihr die Sicht und rann leise über ihre Wangen.

"Erinnerst Du Dich noch an mich ?" fragte der Mann, der plötzlich an der bereits vor Stunden geschlossenen Schneiderei vor ihr stand. "Wir trafen uns im letzten Jahr und haben uns leider wieder aus den Augen verloren. Um so mehr freue ich mich, Dich heute wiederzusehen".
"Sie irren sich und ich bin nicht in der Stimmung, mich blöde anmachen zu lassen" antwortete sie ihm barsch schon im Weitergehen, ohne den Blick wirklich zu heben. "Verzeih mir die Verwechlung" erwiderte er, blieb aber trotz ihrer abweisenden, fast schon arroganten Art an ihrer Seite. Schweigend gingen sie nebeneinander die dunkle Straße hinab. Nur ihre Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hallten von den Häuserwänden wider und irgendwo bellte ein Hund. Auf Höhe der alten Eckkneipe streckte er ihr vertrauenserweckend die Hand entgegen. "Komm" sagte er und zog sie sanft durch die knarrende Holztür.

Kopfsteinpflaster

Abgestandener Zigarettenrauch schlug ihnen im Inneren entgegen. Drei Männer saßen an der Theke vor ihrem Pils und Korn und debattierten hitzig mit dem bierbäuchigen Wirt über das verlorene Fußballspiel vom vergangenen Wochenende. Ein anderer Mann saß auf einem wackligen Hocker vor den zwei blinkenden Spielautomaten, die er mit stumpfem Blick beidhändig mit Geldmünzen fütterte. Im Hintergrund plärrte ein deutscher Schlager aus einem knarzenden Lautsprecher.

Der Fremde führte sie zu einem abgelegenen Tisch am Fenster und half ihr zuvorkommend aus ihrer Jacke. Fünf Minuten später kehrte er mit zwei Tassen dampfendem Tee vom Tresen zurück und setzte sich ihr gegenüber. Sie bemerkte seine gepflegten Hände, die übereinander auf der Tischplatte ruhten, die teure, aber unaufdringliche Uhr an seinem Handgelenk und den feinen Stoff seiner Pulloverärmel und als sie erstmals kurz den Blick hob, schaute sie in zwei gütige, tiefblaue Augen.

Sie nahm den Beutel aus ihrem Tee, rührte gedankenverloren in der braunen Flüssigkeit und bedankte sich tonlos für das Taschentuch, das der Fremde ihr mit einem freundlichen Lächeln reichte. Nach einer gefühlten Ewigkeit begann sie leise zu reden. Von der Erkrankung und dem doch so plötzlichen Tod ihres Bruders vor zehn Tagen, von dem Schmerz, der ihr den Atem raubte, von den schlaflosen Nächten und von der Angst vor dem morgigen Tag, an dem sie ihren Bruder auf seinem letzten, irdischen Weg begleiten müsse. Sie sprach, immer wieder aufschluchzend, von der Leere, die er hinterlassen hatte und von dem surrealen Gefühl, dass sich die äußere Welt einfach weiterdrehte, obwohl in ihrem Inneren alles stillzustehen schien.

Der Fremde stand auf, kam um den Tisch herum und setzte sich neben sie. Mit warmen Fingern löste er sanft ihren Griff, mit dem sie die Teetasse umklammert hielt und schloß ihre Hand zwischen seinen ein. Er erzählte von seinen Begegnungen mit dem Tod. Er redete von seinem Bruder, der in seiner Jugend in seinen Armen starb. Er erzählte vom Tod eines Kameraden und den unzähligen Zivilisten, die vor seinen Augen ihr Leben im Bosnienkrieg verloren und in dem er selbst als Soldat schwer verletzt wurde. Und vom plötzlichen Herztot seiner Mutter, von der er sich nicht einmal verabschieden konnte, am Vortag seiner Heimkehr von der Front nach Deutschland.

" Feierabend für heute, Herrschaften" . Es war schon Nacht, als der Wirt sie als seine letzten Gäste zum Gehen aufforderte und die Tür hinter ihnen verschloß. Einvernehmlich schweigend gingen beide Hand in Hand durch die verlassenen Straßen. Nur hinter wenigen Fenstern brannte noch Licht. Vor ihrem Haus angekommen, nahm der Fremde ihr Gesicht in seine Hände. "Es ist ein guter Weg, den Du morgen gehen wirst, denn Du zeigst Deinem Bruder und Dir, wie sehr Du ihn liebst. Erinnere Dich an all die schönen Dinge, die Du mit ihm geteilt und erlebt hast und denke daran, dass Dir niemand jemals diese Erinnerungen nehmen kann. Es wird ein schöner Tag, denn die Sonne wird wieder scheinen und euch begleiten. Und auch ich werde bei Dir sein. Meine Hand wird warm und leicht auf Deiner Schulter ruhen und Dich durch den Tag führen". Nach einem letzten, liebevollen Blick und einem zart gehauchten Kuß auf ihre Stirn verschwand der Unbekannte, dem sie, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, ihr von Kummer und Angst überquellendes Herz einfach so ausgeschüttet hatte, in der Dunkelkeit.

In der Wohnung angekommen zog sie völlig erschöpft lediglich ihre Jacke und die Schuhe aus, legte sich angezogen auf ihr Bett und fiel, erstmals seit vielen Nächten, augenblicklich in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

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